Polen-Böller

Feuerwerk und brennende Mülltonnen

14-Jähriger nach Randale in Berlin-Kreuzberg festgenommen

„Mama, wir müssen dringend um 5 Uhr zu LIDL, sonst sind die Knaller alle weg.“ erklärte mir mein 12 jähriger, vertieft in seine Feuerwerksprospekte. Er sammelte Prospekte aus allen gängigen Supermärkten, die ihm liebsten Feuerwerks­körper waren umstrichen. Ein paar Wochen zuvor hatte ich ihm erklärt, dass ich Feuerwerk zwar sehr beeindru­ckend fand, aber nicht mehr als 20€ ausgeben wollte. Trotz etlicher seiner Überredungsmaßnahmen durch ihn selbst, seinen Bruder oder seine Freunde hielt ich an meiner Entscheidung fest und so begann er Geld zu organisieren. 

Er fragte alle in der Familie, Freunde und Nachbarn, auch eine Menge Leute, die er nicht fragen sollte!

Er organisierte mehrere Flohmärkte, gemeinsam mit seinem kleinen Bruder, der ebenfalls Feuer und Flamme für die Aktion war. In der Kälte vor der Tür saßen sie, Tee trinkend und verkauften alles Mögliche aus unserer Wohnung. Das Glas mit dem Geld füllte sich. 

Sie studierten Pyrotechnik auf Youtube und Tictoc und sahen jungen Männern auf der ganzen Welt zu, die allerhand Zeug zündeten. Sie sahen sich auch Feuerwehr-, Polizei- und Krankenwagen Einsätze an Silvester in Deutschland an. Ihr Lieblingswort in dieser Zeit war „Polen-Knaller“.

Sie schrieben ständig neue Einkaufslisten und führten genau Buch über ihre Einnahmen. Natürlich stritten sie auch regel­mäßig, vor allem über das Geld. 

Für eine Mutter wie mich war das ein wunderbares Projekt. Hochmotiviert saßen sie da, jeden Tag mit Stift und Zettel. Lesen, Schreiben, Rechnen, alles freiwillig! Sie führten eigenständige Recherchen mit Hilfe unterschiedlichster Medien durch, eigneten sich unter­nehmerische Fähigkeiten und Kommunikationsskills an und entwickelten eine Menge kreativer Lösungsstrategien. Selbstverständlich versprach ich ihnen, am 28.12 in den frühen Morgenstunden durch die Supermärkte ihrer Prospekte zu ziehen, um die besten Feuerwerkskörper zu ergattern.

Ich lasse mich sehr gerne auf Abenteuer mit meinen Kindern ein und erkunde dabei immer wieder neue Räume, die mir vorher verschlossen waren. So auch in diesem Fall:

5:45 Uhr morgens, auf dem Parkplatz vor unserem ersten Supermarkt. Eine Schlange von etwa 20 Menschen stand mit Einkaufswagen bewaffnet vor der Tür und wartete auf den Knall. Wir stellten uns hinten an. Es war saukalt und ich bereute bereits meine abenteuerliche Einstellung.

“Wenn du nicht so lange gebraucht hättest, wären wir ganz vorne in der Schlange!”, bekam ich dann auch noch eine Ansage von meinem 12 jährigen. Er war ehrlich besorgt, dass alles ausverkauft sein würde, wenn wir erst im Laden wären. Sein erster Wecker hatte schon um 4:30 Uhr geklingelt! Wäre es nach ihm gegangen, stünden wir hier schon seit Stunden in der Kälte.

„Macht Eure Jacken zu,“ maulte ich müde zurück. 

„Da, Mama, die machen auf, schnell!“ riefen meine Jungs mit offenen Jacken, hellwach und total aufgekratzt.

Im Laden spielte sich ein ungewöhnliches Szenario ab. Ich brauchte ein paar Momente, um zu verstehen, was da eigentlich passierte. 

Die Jungs stürzten sich mit anderen jungen Männern auf die Kisten voller Raketen, die ein Mitarbeiter gerade aus dem Lager fuhr und für sie öffnete. Das Zeug wurde verkauft, bevor es ausgepackt und in die Regale kam. Die Mitarbeiter hatten alle Hände voll zu tun.

Käufer waren vor allem junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren, dazwischen ein paar Gruppen älterer, die eine Menge derber Witze machten und Väter mit ihren minderjährigen Söhnen. Sie alle hatten ansteckend gute Laune, Prospekte mit umkreisten Feuer­werkskörpern und handgeschriebene Einkaufslisten, genau wie meine Söhne.  

Alter, ich war in eine männliche Parallelwelt geraten! Zum ersten Mal in meinem Leben die einzige Frau in einem vollen Supermarkt. Ich fühlte mich wie Alice im Wunder­land, total verwundert!

Da ich schon drei Kinder durch die Pubertät begleitet hatte, wusste ich, wie ausgesprochen schwierig es sich gestalten konnte, Pubertiere morgens aus dem Bett zu bekommen. Ich erinnerte mich auch sehr gut an all das Gemaule von eben jenen, die nicht für mich einkaufen wollten, und meine selbstgeschriebenen Einkaufs­listen entschieden ablehnten. 

Und nun? Im Neonlicht eines Berliner Supermarktes wurde mein Weltbild kurz und gründlich durchgerüttelt.

“Sie können also definitiv morgens sehr früh sehr pünktlich sein“, synapste mein Hirn, „und mit handschriftlichen Einkaufslisten einkaufen gehen, das können sie auch!” 

Ich fühlte mich schrecklich hintergangen von sämtlichen Erziehungsratgebern bezüglich Schlafrhythmus in der Pubertät. Ich versprach mir selbst einen weniger aufwändigen Umgang mit zukünftigen Pubertieren in meinem Haushalt zu entwickeln.

Auch in den folgenden Supermärkten spielte sich ein ganz ähnliches Szenario ab. Ich traf insgesamt 2 Frauen auf der ganzen Tour:

Im zweiten Supermarkt schob eine mit dem Einkaufswagen hinter einem Mann her, der ganz offensichtlich wusste, was wo zu finden war. Er lief mit der Einkaufsliste vorneweg. Auch hier brauchte mein Hirn ein paar Momente, um das zu verarbeiten. Bei meinen sonstigen Supermarktbesuchen lief das meist andersherum: Sie hatte die Liste, er den Einkaufswagen. 

Im letzten Supermarkt trafen wir eine Mama, die ganz offensichtlich ihren minderjährigen Sohn (er hatte die Einkaufsliste, sie den Wagen, so wie auch bei uns) begleitete. Wir lächelten uns verständ­nisvoll an.

Meine Jungs verballerten 200€ in Feuerwerkskörper und benahmen sich in den nächsten 4 Tagen bis Sylvester wie ein Schwarm Wespen. So aufgeregt, dass sie kaum Schlafen oder meine Anweisungen hören konnten. Ich versteckte das Knallzeug bis zur Party in meinem Zimmer.

Silvester war dann echt traumatisierend für mich und unsere Gäste. Anders meine Jungs, die waren zu Heros ihrer Silvesterstory geworden, die sie immer und immer wieder großmütig ausgeschmückt erzählten. 

 

Kurz und faktisch passierte folgendes:

Eine Batterie kippte um und schoss die Tüte mit dem Jugendfeuerwerk ab. Alle Brummer und Bienen stoben leuchtend und kreischend in alle Richtungen. Kurz darauf brannte die Tasche mit den Raketen. Es ging alles so schnell. Wir standen unter Beschuss. Die Mütter zogen die kreischenden Kinder schützend in die Hauseingänge und ein mutiger Papa zertrampelte die Flammen, bevor die Raketen alle losgingen. Wir schleppten Schüssel um Schüssel Wasser und Sand, bis alles ganz sicher erloschen war und niemand mehr angeschossen werden konnte. Wir hatten unendliches Glück! Es war niemand verletzt worden und unser Feuer hatte keinen größeren Schaden angerichtet.

Und das Murmeltier grüßte dann auch in den folgenden Jahren:  

  • Wenn das Wort „Polen-Böller“ wieder regelmäßig im Vokabular meiner Söhne auftaucht, sind es noch etwa 2 Monate bis Silvester. 
  • Kurze Zeit später startet die Recherche, mittlerweile auch im English sprachigen Raum, 
  • gefolgt vom Einkaufslisten, später auch Prospekten, 
  • und mannigfaltigen Geldbeschaffungsmaßnahmen. 

 

Ich halte dann gerne unterschiedliche Vorträge darüber, warum ich entscheide, wie viel Geld ausgegeben wird (weil ich’s kann!) und warum minderjährige junge Menschen keine Feuerwerkskörper kaufen dürfen (weil sie’s nicht können!). 

Jedes Jahr verschiebe ich die Einkaufszeit gekonnt ein wenig nach hinten. Ich verschlafe am 28.12 sehr gerne und kann die Listen auch oft nicht entziffern. Dazu nutze ich Strategien, die meine vorhergegangenen Pubertiere entwickelt haben. 

Boomende Böller-Branche

Deutsche geben Rekordsummen aus

An drei Verkaufstagen im Jahr wird in Deutschland ein riesiger Umsatz mit Feuerwerkskörpern gemacht. Seit dem Jahr 2022 sind es jährlich 180 Millionen Euro. 

Es gibt nur 4 Firmen, die Pyrotechnik in Deutschland verkaufen. 

Dazu importieren Sie 40.000 Tonnen Feuerwerkskörper, vor allem aus China. 40.000 Tonnen, die nicht nur als Müll auf unseren Straßen landen, sondern auch echt gefährlich sind. 

Jedes Jahr gibt es knapp 400 Verletzte in Berlin, darunter auch Kinder und Personal von Polizei, Feuerwehr und Krankenpflege. 

Auch an Jugendliche verkauft

Polizei stellt drei Tonnen Pyrotechnik sicher

Der illegale Handel mit oft lebensgefährlichen Feuerwerkskörpern floriert während der Silvestertage, auch mit und unter Jugendlichen wird da gehandelt.

Über Plattformen wie Instagram oder Telegram werden meist aus Polen und Tschechien eingeschmuggelte Pyrotechnik gehandelt, schrieb mein Newsfeed.

Besonders gefährlich ist auch die Lagerung von illegalem Feuerwerk in Wohnungen.

Mehrere schwere Fälle an Silvester

Deshalb sind Kugelbomben so gefährlich

Unsere Silvesterzeit im Jahr 2024 wurde nicht nur durch das Wort „Polen-Böller“ eingeleitet, es gesellte sich ein weiteres Wort in den Wortschatz meiner Söhne: Kugelbomben. Sie haben es bei ihrer Recherche gelernt.

 

Nach Silvester schrieben die großen Krankenhäuser in meinen Newsfeed, dass in der Silvesternacht auffällig viele Menschen durch Kugelbomben verletzt worden waren, darunter auch Kinder!

Erschreckend fand ich das! Ich konnte an meinen eigenen Kindern sehen (hören), welche Gefahren allen Jugendlichen in der Stadt drohten. 

Jugendliche böllern 13 Autos kaputt, Haus brennt

Zahlreiche Feuerwerks-Einsätze in ganz Deutschland

Für mich war klar, meine Jungs waren Zielgruppe eines mächtigen Marktes. Unschuldig und minderjährig wie sie waren, so waren sie doch aufgrund ihres Alters und ihres Geschlechts seit ihrem 12. Lebensjahr Zielscheibe des Silvester Geschäfts. 

Sie waren Opfer der Werbekampagnen, nur diese Werbung passierte so unterschwellig, kaum greifbar und illegal, wie ich fand.

Sie sammelten die Infos vor allem in den Sozialen Medien. Youtuber (junge Männer zwischen 16 und 30 Jahren), die alles Mögliche vor laufender Kamera in die Luft sprengten, inspirierten sie. .

Diese Form der Werbung konnte ich nicht unterbinden, sie teilten die Videos mit ihren Freunden und unterhielten sich angeregt darüber. Besonders sensibilisiert wurden sie für illegale Böller mit enormer Sprengkraft.

Plötzlich wird das Ganze dann zur Mutprobe

Muslimische Jugendliche randalieren an Silvester in Berlin und anderswo  

Seit Jahren poppen ungefragt zur Silvesterzeit hässlich rassistische  Artikel auf, in denen gegen männliche, arabische und muslimische Menschen gehetzt wird.

Meine Söhne sehen sich als Muslime und werden aufgrund ihrer Hautfarbe auch oft “arabisch” gelesen. Damit gehören sie zu einer sehr stigmatisierten Gruppe. Sie erleben Zuschreibungen wie Gewaltbereitschaft, Masochismus, Kriminalität… 

Obwohl alle männlichen Jugendlichen gezielt als potentielle Käufer für Feuerwerk manipuliert werden und damit in lebensgefährliche Situationen kommen, werden gerade arabische und muslimische Jugendliche durch die Presse zu Tätern denunziert.

Dahinter stehen ambitionierte Politiker:innen und Journalist:innen die diese jungen Menschen für ihre Reichweite durch den Dreck ziehen. Shame on you!

„Statt stigmatisierender Zuschreibungen in Bezug auf migrantische Jugendliche brauchen wir einen entschiedenen Kampf gegen deren Perspektivlosigkeit und gegen den systematischen Rassismus, dem diese ständig ausgesetzt sind“

Resumé

Ich hab die Schnauze voll von Silvester

Es ist jetzt Mitte Januar, die Jungs gucken immer noch ab und an sprengenden Youtubern zu und ich hab’ die Schnauze voll von Silvester! Die Petition Bundesweites Böllerverbot, jetzt! der Polizei ist unterschrieben, geteilt und wurde bereits eingereicht. Ich freue mich, wenn es eingestellt wird. 

Für meine Jungs, die ganz vorsorglich auch bei der Freiwilligen Feuerwehr sind, fänd ich es toll, wenn z.B. die Feuerwehr eines jeden Stadtbezirkes zusammen mit professionellen Pyrotechnikern an Silvestern ein beeindruckendes Feuerwerk zünden würde. Nur die Feuerwehr, alle anderen soll es verboten sein. Vielleicht als Übergang in eine inklusive und nachhaltige Art des Neujahrsfeiern.

Da ich aber glaube, dass das Feuerwerkskörper Geschäft eine ausgezeichnete Lobbyarbeit leistet, läuft das Geballere bestimmt auch im nächsten Jahr so weiter. 

Dann fände ich es toll, wenn die Verantwortlichen wenigstens verdonnert würden, alle Polizei- und Feuerwehreinsätze in der Silvesternacht, die Müllentsorgung danach, den entstandenen Schaden (verbrannte Autos, Wohnungen usw.) einschließlich der Krankenhausaufenthalte und Schmerzensgeld für Jugendliche und deren Familien zahlen müssten. Dann hätten wir vielleicht sogar geringere Steuern und Krankenkassenbeiträge. Haha- das wird wohl auch nichts. Die Verbrecher:innen sind ja alle angeblich nur am illegalen Markt beteiligt und können deshalb nicht/selten zur Rechenschaft gezogen werden.

Nun, ich habe hiermit auf jeden Fall meine Hausaufgaben als Mutter gemacht. Ich kann recht gut einschätzen, was am Ende des Jahres auf mich zukommt. Wenn das Wörtchen „Polen-Knaller“ wieder in aller Munde ist, werde ich genau hin horchen, um meine Kinder und alle, die mir lieb sind, möglichst gut zu schützen.